Autor: Marcus Naumann
Ein Beitrag der dgp informationen – das Download-PDF finden Sie am Ende des Artikels.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Viel zu oft stimmt die Aussage sogar, denn der ganz große Teil der Personalauswahlverfahren in Deutschland erfolgt auf einem sehr wackeligen Fundament. So werden in den meisten Fällen Auswahlverfahren für komplexe Stellen auf Basis von pauschalen und wenig aussagekräftigen Stellenausschreibungen oder gar von „Haben wir schon immer so gemacht“ konzipiert und durchgeführt. Derweil ist die professionelle und nachhaltige Alternative im Verhältnis zum Nutzen gar nicht so aufwendig, jedoch kaum bekannt: die Anforderungsanalyse nach DIN 33430.
Stellenbezogene Eignungsdiagnostik ist ein kniffliges Unterfangen, und somit verwundert es wenig, dass solche Auswahlverfahren dann wenig mit den tatsächlichen Anforderungen der Stelle zu tun haben. Die Folgen sind absehbar: Die ausgewählte Person, im Auswahlverfahren überzeugend, stellt sich in der tatsächlichen Tätigkeit als enttäuschend heraus.
Immer wieder hört man die Aussage: „Wozu denn Anforderungsanalyse, wir haben doch
eine Stellenausschreibung!“ Der Blick in diese Stellenausschreibung zeigt jedoch oft eine Liste an „großen“ Begriffen wie Teamfähigkeit oder Zuverlässigkeit, und im darauf aufbauendem Auswahlverfahren sollen dann all diese Kompetenzen und Eigenschaften ermittelt werden. So entstehen Auswertungsbögen, auf denen sieben, acht oder noch mehr Kompetenzen aufgeführt sind, die alle bewertet werden sollen, jedoch nicht genauer beschrieben, operationalisiert oder priorisiert wurden.
Studien zur inkrementellen und konstruktbezogenen Validität zeigen: Das funktioniert nicht, sondern führt dazu, dass unterm Strich doch wieder nur die persönliche Sympathie gewertet wird (Bowler & Woehr, 2006 sowie Kuhnhardt, 2020). Und die hat in den meisten Fällen wenig mit der tatsächlichen Eignung zu tun. Es gilt also das alte Credo: Weniger ist mehr! Doch wie entscheiden, was entfernt werden muss? Auch hier kann die Anforderungsanalyse (AnfA) nach DIN 33430 unterstützen, da sie Informationsgewinnung und Komprimierung in einer Methode vereint.
Was ist eine Anforderungsanalyse?
Bei der AnfA werden die wichtigsten Eigenschaften, Kompetenzen und Verhaltensweisen erarbeitet, die für eine erfolgreiche Stellenbesetzung relevant sind. Eine fundierte Anforderungsanalyse hilft, die Passung zwischen Bewerbenden und den Anforderungen einer Stelle zu optimieren, was langfristig zu höherer Zufriedenheit, Leistungsfähigkeit und geringeren Fluktuationsraten führt.
Abb. 1: Basiskriterien für eine Anforderungsanalyse
Wie läuft die AnfA grob ab?
Der genaue Ablauf ist nicht detailliert durch die DIN 33430 festgelegt, die Deutsche Gesellschaft für Personalwesen e. V. (dgp) empfiehlt jedoch in Anlehnung an die vorhandenen Vorgaben folgende Methodik:
1. Analyse der stellenrelevanten und erfolgsentscheidenden Hauptaufgaben sowie ein Konsens darüber, wie diese lösbar sein könnten
Dieser Schritt hilft, wenn gut moderiert, die Vielzahl an den auf einer Stelle liegenden
Aufgaben und Herausforderungen auf die wichtigsten zu reduzieren sowie für das Auswahlverfahren stellenbezogene und aussagekräftige Operationalisierungen und Anker für die Bewertungen zu finden. Meistens existieren bei einem Stellenbesetzungsverfahren
bereits Stellenbeschreibungen, die als Basis für die Ausschreibung oder das Auswahlverfahren dienen. Jedoch sind diese oft sehr allgemein gehalten oder beinhalten keine anforderungsbezogenen Formulierungen. Typische Beispiele sind „Führung des
Fachbereiches“ oder „Bearbeitung von Widersprüchen“.
Diese Formulierungen sind jedoch für die Konzeption eines Auswahlverfahrens nicht
ausreichend, da sie nicht beschreiben, welche Eigenschaften, Verhaltensweisen und Kompetenzen für die erfolgreiche Erfüllung der Aufgaben notwendig sind. In der AnfA wird dies entsprechend detaillierter erörtert und analysiert. Das mag bei rein fachlichen Aufgaben noch einfacher sein, spätestens bei „Führung des Fachbereichs“ können dann die tatsächlichen Anforderungen kniffliger zu ermitteln sein.
Die Praxiserfahrung zeigt, dass selbst bei gleicher Stellenbezeichnung (z.B. Amtsleitung Allgemeine Verwaltung und Bürgerservice) zwischen zwei Stadtverwaltungen bereits signifikante Unterschiede erarbeitet werden, da oft unterschiedliche Schwerpunkte erfolgsentscheidend sind. Nehmen wir dieses Beispiel: In der Verwaltung A läuft es im Amt selbst rund, und es braucht eine Person, die vor allem nach außen mit anderen Abteilungen oder Unternehmen kommuniziert. Bei Verwaltung B hingegen wird eine Person gesucht, die vor allem die teaminternen Konflikte angeht und vermittelt.
Ergo: Die gleiche Stelle, zwei Verwaltungen, zwei unterschiedliche Hauptanforderungen, folglich zwei unterschiedliche Auswahlverfahren.
2. Analyse von entscheidenden und besonderen Bedingungen sowie Spezifika
Dazu gehören zum Beispiel interne und signifikante Konflikte sowie die Frage, warum die Stelle gerade unbesetzt ist oder welche Bedingungen in den nächsten Monaten und Jahren die Anforderungen an die Stelle verändern könnten. Gerade letzteres wird oft nicht bedacht, aber Führungskräfte in Verwaltungen sind oft länger in der Position als nur ein bis zwei Jahre. Sollte der nächste große Schritt der Digitalisierung absehbar sein, wäre es also gut, schon jetzt eine Führungskraft zu suchen, die in ein zwei Jahren auch über die notwendigen Kompetenzen verfügt, um diesen umzusetzen.
3. Sammlung von erfolgsentscheidenden Situationen nach der
Critical Incident Technique (CIT, Flanagan, 1954)
Diese Methode ist besonders gut geeignet, um real auftretende Situationen anforderungsbezogen zu durchleuchten und daraus wirklich relevante und entscheidende Bewertungsdimensionen für das Auswahlverfahren zu entwickeln. Grob zusammengefasst werden bei der Methode Situationen ermittelt, die Stelleninhabende im Arbeitsalltag herausfordern können und die von besonders geeigneten Personen gut bzw. von ungeeigneten schlecht gelöst werden. Sehr oft entspringen direkt aus der CIT starke Interviewfragen oder andere Auswahlaufgaben wie Rollenspiele oder Fallaufgaben, die über einen hohen Realitätsbezug verfügen.
Sollten Sie zunächst nur eine reduzierte Anforderungsanalyse, gewissermaßen eine
„AnfA light“, durchführen wollen, dann setzen Sie mindestens diesen einen Schritt um, denn er ist wohl mit der effektivste. Wichtig ist insbesondere, dass auch direkt in der AnfA ein Konsens gefunden wird, wie die Situationen möglichst gut oder schlecht zu lösen sind, denn genau aus diesen Überlegungen entspringen erst die eigentlich relevanten Anforderungen, die es im Auswahlverfahren zu überprüfen gilt.
Das ist weiterhin wichtig, damit im Auswahlverfahren alle Kommissionsmitglieder die
gleichen Aspekte bewerten und es einen Konsens über das „gewünschte Verhalten“
gibt. Somit wird verhindert, dass im Verfahren dann die Diskussion entsteht, ob in der Situation A der/die Bewerber*in bezüglich einer hohen Führungskompetenz seinen/ihre Mitarbeiter*in hätte zurechtweisen oder Verständnis zeigen müssen.
4. Erarbeitung und Konkretisierung der wichtigsten Kompetenzen und Eigenschaften
Aus den ersten drei Schritten entsteht bereits eine Vielzahl an wichtigen Eigenschaften, Kompetenzen und Verhaltensweisen. Im vierten Schritt werden diese komprimiert, reduziert und vor allem konkretisiert. Dies ist besonders wichtig, da für Begriffe wie „soziale Kompetenz“ bei knapp 85 Mio. in Deutschland lebenden Menschen vermutlich 85 Mio. verschiedene Definitionen existieren. Daher ist es essenziell, dass vor dem eigentlichen Auswahlverfahren diskutiert und festgelegt wird, was unter den einzelnen Kompetenzen tatsächlich zu verstehen ist. Andernfalls bewerten im Verfahren alle Kommissionsmitglieder unterschiedliche Dinge, was schlussendlich wieder die Validität (Gültigkeit) vom Verfahren verhindert.
Das Schwierigste an diesem Schritt ist aber wohl die Reduzierung auf das Wesentliche.
Die DIN 33430 sowie verschiedene Meta-Studien (Arthur et al. , 2003 sowie Lievens et al., 2005) geben einige Empfehlungen zu der Anzahl an Bewertungsdimensionen in einem Auswahlverfahren. Hintergrund ist, dass selbst sehr erfahrene Kommissionsmitglieder in einer Station nur sehr wenige Dimensionen getrennt voneinander bewerten können und weiterhin jede Dimension mehrmals ermittelt werden sollte. Als grobe Faustregel könnte
man für Interviews drei bis vier bzw. für Assessment-Center vier bis fünf Bewertungsdimensionen anpeilen.
Wird das Maß überschritten, bewerten Kommissionsmitglieder mit hoher Wahrscheinlichkeit den allgemeinen Eindruck und brechen diesen eher willkürlich auf die Dimensionen herunter. Jede Mühe um Objektivität und Validität wäre dahin, denn beim „beliebten“ allgemeinen Eindruck wirken die klassischen Bewertungs- und Beobachtungsfehler sehr stark, was dazu führt, dass die tatsächlichen Anforderungen der Stelle kaum noch eine Rolle spielen. In der AnfA muss entsprechend stark priorisiert und geclustert werden, um die Vielzahl der Anforderungen auf die wirklich essenziellen Top 3 bis Top 5 zu reduzieren.
Abb. 2: Vier Schritte auf dem Weg zu einer professionellen Anforderungsanalyse
Aufwand-Nutzen-Verhältnis einer
Anforderungsanalyse
Sie sehen, dass bei der AnfA viele Informationen zusammenkommen und daher die Moderation und Dokumentation herausfordernd sein kann. Hilfs-Tools wie Miro-Board oder Word-Checklisten sind hier sehr hilfreich. Zudem kann auch eine professionelle Begleitung durch Eignungsdiagnostiker*innen mit einer E-Lizenz viel Sinn ergeben, vor allem bei den ersten AnfAs, denn dabei lernt man noch den einen oder anderen wichtigen Kniff bzgl. der Moderation und bekommt ein Gefühl für die Abfolge der Methode.
Die Lizenz E ist ein Qualitätssiegel der DIN 33430 und gilt als Nachweis dafür, dass eine Person über die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, um Eignungsdiagnostik professionell durchzuführen.
Die Vorteile, die sich aus einer sauber durchgeführten Anforderungsanalyse ergeben, wiegen den Aufwand um Längen auf.
Vorteile von Anforderungsanalysen
- Die Konzeption von Interviewfragen, Aufgaben und Verfahrensunterlagen
geht im Anschluss deutlich schneller und effektiver von der Hand als ohne AnfA. Die für die AnfA benötigte Zeit holen Sie meist wieder herein. Die Auswahlverfahren messen das, was für die Stellen relevant ist, und nicht „irgendetwas“. - Das führt zu langfristig besser besetzten Stellen, was wiederum die Produktivität und Zufriedenheit der Mitarbeitenden steigert. Gleichzeitig sinkt damit die Fluktuation und der Stand von Krankmeldungen.
- Das Verfahren erzeugt eine höhere Akzeptanz bei Bewerbenden (und oft auch beim Personalrat), was die Klagewahrscheinlichkeit reduziert und die Zusagewahrscheinlichkeit der gewünschten Person erhöht.
- Sie wirken durch die zielgerichteten Verfahren kompetenter und damit attraktiver auf Bewerbende. Gerade die besonders guten Bewerbenden suchen sich (neben harten Faktoren wie Bezahlung und Wohnort) bei mehreren Angeboten oft jenes raus, das im Auswahlprozess den besten Eindruck hinterlassen hat.
- Personal- und Fachabteilungen lernen sich besser kennen. Dies führt langfristig zu weniger Missverständnissen und Konflikten in der Gesamtverwaltung.
- Die Auswahlverfahren sind in der Durchführung angenehmer und ressourcensparender, da die Fragen und Bewertungen anhand klarer und nachvollziehbarer „Regeln“ erfolgen.
- Es kommt zu deutlich weniger Rechtsstreitigkeiten, was etwaige Verfahrensfehler betrifft.
DIN 33430 – „Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik“
In Deutschland verfügen wir über einen hervorragenden Fundus an wissenschaftlichen Empfehlungen und Hilfestellungen bezüglich der Eignungsdiagnostik. Ein wirklich gelungenes Instrument, diesen zu nutzen, gibt es mit der DIN 33430, die durch die Zusammenarbeit von verschiedenen akademischen Akteur*innen entstanden ist.
Sie legt Standards für die berufsbezogene Eignungsdiagnostik fest und beschreibt Anforderungen an Verfahren sowie deren Einsatz zur Bewertung der beruflichen Eignung von Personen. Eine sorgfältige Anforderungsanalyse nach DIN 33430 ist von entscheidender Bedeutung für den gesamten Prozess der Personalauswahl und der Personalentwicklung.
Die Deutsche Gesellschaft für Personalwesen e. V. (dgp) ist Mitinitiatorin der DIN 33430. Wenn Sie sicherstellen wollen, dass Ihre Auswahlverfahren wissenschaftlich fundiert sind und über echte Gültigkeit (Validität) verfügen, dann geben Sie bei Ausschreibungen und Angebotsabfragen die Konzeption und Durchführung nach DIN 33430 vor! Dienstleistende können und sollten sich entsprechend zertifizieren lassen, und Sie können dies als Bedingung in der Leistungsbeschreibung festlegen.
Fazit
Die Anforderungsanalyse nach DIN 33430 ist ein mächtiges Werkzeug, das über ein klares und nachvollziehbares Programm einen enormen Informationsgewinn mit sich bringt. Dies mag am Anfang zwar etwas herausfordernd wirken, mit etwas Übung und/oder professioneller Begleitung gehen die jeweiligen Schritte jedoch schnell in Fleisch und Blut über. Das führt dazu, dass Ihre Auswahlverfahren auf eine ganz andere Ebene befördert werden können.
Die DIN 33430 sowie begleitende Literatur, zum Beispiel vom Forum Assessment e.V., unterstützt Sie bei dem Prozess. Die Deutsche Gesellschaft für Personalwesen e. V. bietet zusätzlich praxisorientierte Workshops zur Schulung der Methode an oder begleitet Sie bei der Anforderungsanalyse durch erfahrene und zertifizierte Eignungsdiagnostiker*innen.
Das Literaturverzeichnis zum Beitrag finden Sie im aufgeführten Download-PDF.
Marcus Naumann, M.Sc.
Psychologe
E-Mail: naumann@dgp.de
Marcus Naumann ist am Standort Leipzig als Psychologe im Bereich der Personalauswahl sowie Personalentwicklung tätig. Sein Schwerpunkt umfasst die Eignungsdiagnostik für öffentliche Verwaltungen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene sowie für Polizei und Feuerwehr nach DIN 33430; er verfügt über die Lizenz E für Eignungsdiagnostiker*innen, ausgestellt vom Berufsverband deutscher Psycholog*innen. Darüber hinaus berät, moderiert und coacht er bei personalrelevanten Fragen, wie z. B. bei Konfliktmanagement, Kommunikation oder Führung.